Die Entdeckung und Auffindung prähistorischer Schalengefäße auf dem Berggipfel des
Roque de Agando (1250m NN) auf der Kanareninsel La Gomera
Der 250m hohe Felsturm Roque de Agando befindet sich am Rande des Nationalparkes in einem der landschaftlich schönsten Inselgebiete nahe dem nordöstlich gelegenen Straßenkreuz „Cruce de La Zarcita“ und direkt an der Autostraße Carretera del Dorsal (Höhenstraße).
Entdeckung der Funde
Am 19.12.1986 wurde von dem deutschen Bergsteiger Rüdiger Steuer und seinen Gefährten Erich Reuss (†, er hatte am Besteigungstag seinen 77. Geburtstag) und Rolf Vollmer eine Besteigung dieses Felsturmes über den bis dahin einzigen Aufstiegsweg (Schwierigkeitsgrad IV+) durchgeführt. Dieser Aufstieg bewegt sich überwiegend an der Ostflanke, quert dann immer mehr in die Südseite, d.h. in die Talseite von Benchijigua, und führt dort zum Gipfel. Teilweise behindert starker Strauchbewuchs die Kletterei.
Anlass der Besteigung war die Setzung eines Gipfelkreuzes und einer Kassette mit Gipfelbuch, um die Besteigungen zu registrieren.
Nach der schwierigen, Stunden währenden Kletterei mit kräftezehrendem Aufziehen aller Materialien (vorbearbeitete Holzbalken, spezielle Edelstahlverankerungen, Zement, Sand, Wasser, spezielles Werkzeug u.a.) für die erwähnte Installation wurde auf dem Gipfel sogleich mit den umfangreichen Arbeiten begonnen.
Die Gipfelfläche des Roque de Agando ist größer als man es von unten, von der Straße, vermutet; jedoch ungegliedert, stark zerklüftet und mit viel Strauchwerk bewachsen. Weniger auffällig waren daher 3 größere, verstrauchte, mannshohe Steinanhäufungen im zentralen
Gipfelbereich, der
sogleich auch der höchste ist.
Ich vermutete damals voreilig, dass die Agando – „Erstbesteiger der Neuzeit“ (Siegfried Wallmann und Karl Bürtlmeier, beides Österreicher, 1967), nach Bergsteigerbrauch die Erstbesteigung demonstrierend, die Steine angehäuft hätten oder vielleicht die Zweitbegeher (Erich Reuss und Rudl Behrmann, 1977) dies getan hätten. Der tatsächliche Umfang dieser Steinaufschüttungen wurde mir erst später bewusst.
Im etwas niedrigeren, vorderen westlichen Bereich, der von unten, von der Straße gut einsehbar ist, wollen wir das Gipfelkreuz installieren und verankern.
Nach Stunden der Arbeit bei intensiver Sonneneinstrahlung wurde eine Arbeitspause eingelegt. In dieser Zeit sahen wir uns den Gipfelbereich näher an, insbesondere die Steinhaufen. Erst jetzt erkannte ich bewusst die ungewöhnliche Größe der 3 Steinanhäufungen. Reuss entdeckte bei seiner „männlich-menschlichen“ Pause als erster mit Kennerblick in diesen Steinanhäufungen ein Steingebilde, das von Menschenhand bearbeitet sein musste. Weitere 4 Funde konnten wir noch entdecken.
Trotz intensiveren Suchens wurde außer den 5 Schalen nichts mehr gefunden. Trotz der wenigen Zeit bezüglich unserer eigentlichen Arbeit war mir aus logischen Folgerungen heraus sofort klar, dass diese Funde aus sehr alter Zeit stammen mussten und somit überaus wertvoll für Geschichte La Gomeras, ja sensationell sein könnten.
Ich veranlasste daher, dass diese 5 Schalenfunde im Gipfelbereich versteckt werden, um sie später einmal einem Museum auf La Gomera zuzuführen.
Erneute Suche am Agando-Gipfel
Am 25.04.1987 war ich wieder mit einem Freund auf den Gipfel geklettert. Wir durchsuchten ein weiteres Mal – allerdings nur oberflächlich – die Steinhaufen, fanden aber nichts mehr.
Ebenso erfolglos suchten wir die ungegliederte Gipfelregion ab, um in den vielen Höhlen, Überhängen und Spalten Spuren ehemals menschlicher Anwesenheit zu finden.
Ich bemühte mich aus Sicherheitsgründen nach einem besseren Versteck (wegen der Souvenirjäger, die es auch in der Kletterergilde geben könnte!) für unseren wertvollen „Schatz“, fanden ein gutes und deponierte die 5 Schalen dorthin, wo sie letztendlich bis zu den Jahren 2001/2002 liegen sollten. Fast gerieten sie meinerseits in Vergessenheit.
Filmarbeiten für „TERRA X“ am Agando-Gipfel
Anlässlich der Filmarbeiten für den deutschen Fernsehfilm „Die Inseln des Drachenbaums“, der populärwissenschaftlichen Reihe „TERRA-X“ über die Rätsel alter Weltkulturen, wurde vom 10. – 14.08.1989 am Roque de Agando in La Gomera gedreht. Der wissenschaftliche Berater und Begleiter Prof. Harald Braem, Kanaren-Archäologe, hatte zufällig von den Bergfunden gehört, mit mir Verbindung aufgenommen und wollte nun diese interessante Geschichte mit in den Film einbauen. R. Steuer kletterte am 13.08.1989 - nach Vorarbeiten für die Filmerei - mit den sportlichen Braem auf den Agando – Gipfel. Begleitet wurden sie von dem Bergfilmer Martin Biock und der Toningenieurin Lydia Biock. Die bewussten Funde waren Gegenstand des Filmberichtes speziell für La Gomera. Steuer erklärte oben auf dem Agando-Gipfel, wie es zu den wie und wo der Funde kam. Prof. Braem erläuterte, was es aus seiner Sicht mit den Funden auf sich hätte. Die aus Phonolith, dem anstehenden Gipfelgestein, grob behauenen, bis zu 5 kg schweren Steingefäße, dienten wohl den Ureinwohnern für ihre Rituale, erklärte er.
Nach Beendigung der Filmarbeit auf dem Agando – Gipfel durchsuchte Prof. Braem im Forscherdrang noch intensiv einen der Steinhaufen, d.h. er räumte ein Großteil der Steine zur Seite. Er entdeckte beim Durchsuchen der Steinpyramide in ihrem Inneren kleine Pigmentlager, hinweisend auf die darauf basierende rituelle Körperbemalung bzw. Initiationsriten der Ureinwohner. Besonders die roten Pigmente waren bekanntlich den Frühzeitmenschen außerordentlich wichtig; es war die "heilige Farbe des Lebens", die in allen Höhlenmalereien, bei fast allen Felsritzungen und bei Begräbnisplätzen benutzt wurde.
Seinerseits konnte, außer den erwähnten Pigmentlagern, ansonsten nichts mehr Bedeutendes gefunden werden.
Rätsel über die Herkunft und Verwendung der Schalen
In dieser Zeit der Dreharbeiten wurde zwangsläufig heiß über die Funde diskutiert.
Der Roque de Agando war durch seine dominante Lage schon immer wichtiger Orientierungspunkt und von vielen Inselteilen einzusehen. Somit kreuzten sich viele damalige Urwaldwege an seinem Fuße. Damit erhebt sich die Frage, ob der mächtige Felsturm des Roque de Agando zur Altkanarierzeit Kultstätte und später Wachposten gegen das Eindringen der spanischen Konquistadoren war? Beides wäre denkbar.
Der Gipfel und seine Bergflanken waren früher sicher stärker mit Vegetation überzogen und überwuchert. Für die behänden Bergbewohner und Jäger war es sicher möglich, mittels gefällter und entästeter Baumstämme, Strauchwerk nutzend, vielleicht auch mit Stricken o.ä. schwierig aber dennoch den Gipfel zu erreichen, was heute nur geübten Kletterern vorbehalten ist und die nur durch Abseilen wieder nach unten gelangen können. Dennoch mussten sie gegen die nach ihrer Ansicht existenten allgegenwärtige Geister und Dämonen bestehen, was ungeheuren Mut erforderte. Die Besteigung könnte somit als Mutprobe zur Erlangung der Männlichkeit, als Mannbarkeitsritus gedeutet werden. Nur allergrößten Respekt kann man diesen prähistorischen „Kletterern“ für ihre Leistungen zollen!
Die Art der Gefäßbearbeitung lässt nicht darauf schließen, dass diese zur Wasserauffangung und –aufbewahrung dienten, es konnten nur Kultgegenstände gewesen sein.
Form und Ausbildung der Schalen
Insgesamt wurden 5 Schalengefäße gefunden.
Besonders ausgeprägt ist das schwerste, aber auch besterhaltenstes Stück, vermutlich das Unterteil einer steinzeitlichen Reibemühle aus hartem Phonolith (auch Klingstein genannt). Deutlich sind konkave und konvexe Ringe zu erkennen und auch Bearbeitungsspuren durch
Steinwerkzeuge ausmachbar. Eindeutig ist das dazupassende Reibemühlen-Gegenstück zu identifizieren.
Die restlichen 3 Stücke sind schalenartig ausgebildet und nur eins von den 5 Stücken besteht nicht aus Phonolith, sondern aus rotem Tuff.
Alter und Bedeutung der Funde
Eine Altersbestimmung der eindeutig mit primitiven Steinwerkzeugen hergestellten Gefäße war bisher nicht möglich. Diesbezüglich wurde von Steuer ein Gefäß vom Agando-Gipfel im Mai 1988 zur Untersuchung nach der C14-Methode (Altersbestimmung über Kohlenstoff-Spuren) zu Prof. H. Braem nach Deutschland gebracht. Die dortigen Laboruntersuchungen verliefen mangels fehlender Carbonspuren am Untersuchungsstück negativ. Prof. Braem führte jedoch an, dass „die archaische Form der Gefäße allerdings Parallelen zu ähnlichen Funden auf den Balearen aufwiese, die in das 2. Jahrtausend vor der Zeitrechnung datiert werden“.
Mit ziemlicher Sicherheit sind also die Agando-Funde prähistorischen Ursprungs, wovon auch der fachkompetente deutsche Kanarenforscher Prof. Braem überzeugt ist.
Übergabe der Agando-Fundstücke an das CABILDO INSULAR de la Gomera
Durch Veröffentlichung der Fundstücke (Foto in einem Gomera-Wanderbuch von R. Steuer, 11. Auflage 2001, Seite 244 und 291) wurde der deutsch sprechenden spanischen Kletterer Daniel Dietz-Unzeta aufmerksam. Dieser informierte die spanischen Inselbehörden und nahm dann mit mir Kontakt auf.
In der Inselhauptstadt San Sebastián wurde zu jener Zeit gerade ein Museum für Archäologie aufgebaut. Nichts lag also näher und von beiden Seiten gewollt, als zu kooperieren, diese Gefäßschalen zu übergeben, damit sie an den richtigen Ort gelangen.
Bei meinem Besuch in La Gomera im Dezember 2001 kam es dann im Valle Gran Rey am 23.12.2001 zu einer klärenden Besprechung unter Anwesenheit des Inselarchäologen Juán Carlos Hernández Marrero vom CABILDO INSULAR d.l.G., 2 weiteren Spaniern und der Übersetzerin Luna Kolitscher Gonzales. Señor Marrero schilderte seine Aufgabe, sämtliche historischen Funde auf der Insel zu eruieren, zu sammeln, um sie einem demnächst öffneten Museum in der Inselhauptstadt San Sebastián d.l.G. zuzuführen. Diese Überbringung bzw. Übergabe war langwierig und nicht so einfach zu bewältigen, da die schweren Fundstücke vom steilen Gipfelturm auf langem Abseilweg im Rucksack herunter gebracht werden mussten.
Am 27.12.2001 stieg R. Steuer mit einem Freund auf den Agando, holte das erste und zugleich schwerste Fundstück (ca. 5 kg) herunter und brachte es ins „Patronato Insular de Turismo d.l.G.“ in San Sebastián. Ein weiterer vereinbarter Besteigungstermin 11.01.2002 scheiterte am schlechten Wetter. Da sich der span. Kletterer Dietz-Unzeta bereit erklärte in meiner unmittelbar folgenden Inselabwesenheit ein Bergungsversuch zu unternehmen, erklärte ich ihm anhand von Skizze und Beschreibung die Lage des Gipfelversteckes. Bereits am Folgetag 12.01.2002 kletterte er mit Freundin zum Gipfel und holte wieder 2 der schweren Stücke und in Tagesfolge ein weiteres Mal bis die letzten 4 Fundstücke geholt und übergeben werden konnten.
Das archäologische Museum in San Sebastián, in dem die Funde nun ausgestellt und zu bewundern sind, wurde zwar erst mehrere Jahre später eröffnet, aber es war mir echte Freude, dass mein Handeln zum Erfolg führte und ich damit einen Beitrag zur Inselgeschichte leisten konnte.
Nachbemerkungen: Auf der ganzen Insel La Gomera gibt es an historischen Funden fast ausschließlich Stücke aus Keramik, d.h. Gefäße, Scherben u. dgl. sowie „concheros“ (= Muschelschalenhaufen).
Fast sensationell waren daher die vorgenannten Entdeckungen zum einen wegen des Materials aus dem anstehenden Gipfelgestein (Phonolith) wie auch wegen des exponierten Fundortes. Nach Bekanntwerden der Funde wurde sogleich spekuliert, dass es Trinkgefäße von Partisanen aus der Franco-Zeit sein könnten. Tatsächlich hielt sich zu jener Zeit auf einem anderem Felsturm, dem ebenso steilen und exponierten Roque El Cano (650m NN) beim Bezirksort Vallehermoso, zeitweise ein Partisan namens Estabán versteckt. Eine von ihm gefundene Anstiegsroute wurde nach ihm benannt (→Klettern).
Auf dem wesentlich höher stehenden (oft Passatnebel, damit Feuchtigkeit) und auch schwieriger zu besteigenden Roque Agando (1250m NN) gab es jedoch nie Partisanen. Die Steingefäße vom Agando sind nach Experten-Untersuchungen eindeutig prähistorischen Ursprungs, also aus der Guanchen-Zeit.
Rüdiger Steuer